Frühgeschichte bis Mittelalter
Text und Bilder: Robert und Micha Weiss
Frühzeitliches Zählen und Rechnen
Die Entwicklung des Zählens und der Zahlkonzepte von eins über zwei bis "viele" ist ein bedeutsamer Schritt im Verständnis von Mengen und Zahlen in frühmenschlichen Gesellschaften. Der Gebrauch von konkreten Gegenständen wie Muscheln, Steinen oder Kerben in Knochen oder Hölzern zeigt den Ursprung des praktischen Zählens und dessen Alltagsanwendung.
Die Entwicklung verlief dabei von archaischen Zahlwörtern (besseres Verstehen von Mengen) über konkrete Zählhilfsmittel wie physische Objekte (Muscheln, Steine, Kerben, Kordeln und auch die eigenen Finger und Zehen) bis zu den elementaren geometrischen Formen der sumerischen Zivilisation mit den Zählsteinen und der Keilschrift.
Die Verwendung von konkreten Zählmethoden und die Entwicklung von geometrischen Zahlensymbolen reflektieren die frühen Bemühungen der Menschheit, Mengen und Zahlen zu erfassen und zu organisieren. Diese grundlegenden Konzepte legten den Grundstein für die Entwicklung von komplexeren Zahlensystemen, mathematischen Operationen und weiterführenden mathematischen Erkenntnissen, die in der Geschichte der Menschheit von zentraler Bedeutung waren.
Das Kerbholz als einfacher Zählstab, ab 20'000 v.Chr.
Ein Kerbholz mit Kerben gilt als Ursprung der Buchführung (Material: Knochen, Holz), wobei jede Kerbe eine bestimmte Anzahl oder Einheit repräsentiert. Ursprünglich wurden mit den Kerben vor allem Gegenstände und Tiere gezählt, später vermerkte man damit Waren oder Dienstleistungen. Diese Zählstäbe wurde seit der Frühzeit bis ins Mittelalter verwendet.
Kerbholz als Schuldbrief, ab dem Mittelalter
Kerbhölzer waren auch fälschungssichere Pfande (Schulden, Vereinbarungen, Steuerquittungen usw.), ohne dass Schrift oder Zahlenkenntnisse erforderlich waren.
Ein Brettchen oder ein Stock wurde mit Symbolen markiert und längs gespalten. Der Gläubiger erhielt das längere Teilstück. Wieder zusammengefügt zeigte sich, ob die beiden Hälften zusammengehören oder ob man eine Hälfte nachträglich manipuliert hatte. Im Wallis wurden solche Kerbhölzer für Wasserrechte noch im 19. Jh. verwendet.
Zählsteine (Calculi, Token) als Vorläufer der Keilschrift, ab 8000 v. Chr.
Die zehn Finger der Hände waren die ersten Hilfsmittel zur Verarbeitung von Sachen, Waren und Zahlen. Die Zahlensysteme von frühen Hochkulturen – das Fünfer-System der Griechen, Römer, Maya und Chinesen oder das Zehner-System der Ägypter, Sumerer und Babylonier – lassen darauf schliessen.
Die frühesten Vorläufer der Keilschrift waren Zählsteine mit einer bestimmten Form und Symbolik zur Darstellung von Nutztieren und Waren. Zählsteine, auch Calculi oder Token genannt, wurden zuerst aus Stein, später aus Ton gefertigt. Die Form symbolisierte dabei eine Mengenangabe (konischer Stein = 1, Kugel = 10, Kegel = 60) und die eingeritzten Zeichen oder Löcher standen für die Bedeutung wie Schaf, Getreide, Öl usw.
Die Keilschrift der Sumerer und Babylonier
Tontafel mit archaischer Proto-Keilschrift, um 3000 v. Chr.
Aus den Zählsteinen entwickelte sich eine Schrift aus Piktogrammen und Zahlzeichen, die als archaische Proto-Keilschrift bezeichnet wird. Tontafeln aus Mesopotamien zeigen die Entwicklung hin zur Keilschrift, von den symbolischen Piktogrammen der Sumerer (zuerst vertikal, dann rotierend) und den Vereinfachungen der Symbole unter den Babyloniern bis hin zur assyrischen Keilschrift.
Tontafel mit assyrischer Keilschrift, um 2000 v. Chr.
Tontafeln mit Keilschriften, bearbeitet mit einem speziellen Griffel aus Schilfrohr durch einen Schreiber, wurden in einem grossen geografischen Raum, der vom Mittelmeer bis zum persischen Golf und von Anatolien bis Ägypten reicht, in Zehntausenden von Exemplaren gefunden. Durch intensive Forschungen und dank mehrsprachigen Felsinschriften konnte die Keilschrift im Laufe des 19. Jh. entziffert werden.
Das Zahlensystem der Sumerer und Babylonier, 2600 v. Chr.
Die Keilschrift eignete sich sehr gut zur Darstellung von Zahlen. Sumerer und Babylonier verwendeten ein Zahlensystem auf der Basis 60 (Sexagesimalsystem). Das 60er-Zahlensystem hat seine Wurzeln bei sumerischen und babylonischen Mathematikern mit der Tag -und Nachtaufteilung in jeweils zwölf Stunden. Diese stellten fest, dass 60 eine praktische Zahl mit vielen Teilern ist. Heute stellt das 60er-System die Grundlage für die Zeitmessung und für die Astronomie dar.
Auf dieser Tontafel sind folgende Zahlen aufgetragen: links 1 bis 9, Mitte 11, 12, 20, 30, 40, 60, bis 100 (60+40) und rechts 71 bis 73, 64 bis 60 und 130.
Rechnen auf der Linie
Das Rechnen auf der Linie ist ein historisches Rechen-Verfahren für die Grundrechenarten und war im Mittelalter (13. bis 17. Jh.) die meistverbreitete Rechenmethode in Mitteleuropa. Händler und Kaufleuten setzten sie ein. Dabei werden Zahlen mit Rechenpfennigen oder Calculi ausgelegt, verändert und als Ergebnis abgelesen. Dieser Vorgang erfolgte meistens unter Mithilfe eines “Rechenmeisters”.
Die Rechenpfennige werden auf oder zwischen horizontalen Linien, welche den Stellenwert (Einer, Zehner, Hunderter usw.) repräsentieren, positioniert. Als ”Rechenfläche” verwendete man spezielle Rechenbretter, Rechentische oder Rechentücher. Älteste Zeugen von Rechenbrettern stammen aus der Zeit von 300 v. Chr. Die Konstruktion mit den Rechenpfennigen und den Rechenbrettern ist eine flache Version des Abakus.
Aus dem indischen und arabischen Raum wurden im Mittelalter das Dezimalsystem und die Zahl Null nach Europa gebracht, was zu völlig neuen Rechenmethoden und Zahlendarstellungen und schlussendlich zur Einstellung der römischen Zahlendarstellung führte. Es war Adam Riese, der Anfang des 16. Jh. den neuen Rechenmethoden mit seinen Publikationen zur weiten Verbreitung verhalf.
Der Rechenpfennig als „Spielgeld“ im Mittelalter
Rechenpfennige, französische Bezeichnung Jeton, waren nie ein Zahlungsmittel (wie heute der Jeton im Spielkasino.). Sie waren als lose Rechensteine auf Tüchern und Brettern für das Rechnen auf der Linie und für unterschiedliche Währungen im Einsatz. Rechenpfennige wurden im 16. Jh. vor allem in Nürnberg durch bekannte Nürnberger Rechenpfennigmacher (wie Krauwinkel, Lauffer, Höger, Lauer usw.) geprägt. Verwendet wurden flache, dünne Rohlinge aus verschiedenen Metalllegierungen, in welche man unterschiedliche Motive (in Frankreich vor allem Köpfe von Königen) stanzte.
Die ausgestellten Rechenpfennige stammen aus dem 17. und 18. Jh.
Das Rechentuch, das transportable Rechenbrett, Mittelalter
Das Rechentuch aus Stoff oder aus Leder war die tragbare Version des Rechentisches oder -brettes. Gerechnet wurde auf der Linie und im Zwischenraum.
Bei einfachen Auslegungsübungen bedeuten diese auch beispielsweise Münzen verschiedener Wertigkeiten wie Gulden, Groschen und Pfennige, was an den unterschiedlichen Linienwertigkeiten (spezielle Symbole) gut erkennbar ist. Mit solchen Tüchern prüften beispielsweise bayrische Beamten im 16. Jh. die Abrechnungen der örtlichen Bürgermeister.
Das Rechenbrett als bequemes Rechenhilfsmittel, Antike und Mittelalter
Das Rechenbrett, auch Linienabakus, wurde ab dem 13. Jh. in Europa zusammen mit den speziellen Rechenpfennigen verwendet. Die horizontalen Linien dienen zum Kennzeichnen der Einer, Zehner sowie Hunderter und die Tausenderlinie ist mit X markiert. Der Zwischenraum zwischen zwei Linien hat jeweils den fünffachen Wert der darunter liegenden beziehungsweise den halben Wert der darüber liegenden Linie. Dies entspricht den Abstufungen in der römischen Zahlschrift.
Die Spalteneinteilung erfolgt durch vertikale Linien und hat je nach Rechnung verschiedene Bedeutungen als Rechenoperator (Summand, Minuend, Subtrahend, Faktor, Divisor) oder Rechenergebnis (Summe, Differenz, Produkt, Quotient).
Der bedeutende deutsche Rechenmeister: Adam Ries (1492 – 1559)
Adam Ries, besser bekannt als Adam Riese, wurde durch sein Lehrbuch „Rechnung auff der linihen und federn….“ aus dem Jahr 1522 bekannt. Neben dem Rechnen auf dem Rechenbrett beschreibt er in diesem Buch das Ziffernrechnen mit indischen/arabischen Ziffern inklusive der Zahl Null. Er legte damit die Grundlagen für das heutige schriftliche Rechnen (normaler Schulstoff).
In seinem erst Buch „Rechnung auff der linihen“ (1518) beschreibt er das Rechnen auf den Linien eines Rechenbrettes. Dieses Buch war für Kinder bestimmt. Er verfasste seine Bücher in deutscher Sprache, was die Verbreitung sehr förderte. Sein zweites Buch wurde zu seinen Lebzeiten über hundertmal aufgelegt und begründete seinen Ruf als deutscher Rechenmeister. Noch heute ist der Satz „Es gibt nach Adam Riese“ bekannt.
Andere Rechenhilfsmittel
Neben den ausgeführten Rechenmethoden und Hilfsmitteln sind im Laufe der Entwicklung noch viele interessanten Ideen zur Vereinfachung des Rechnens entstanden. Hier einige Beispiele davon:
Proportionalwinkel nach Galileo Galilei, 16. Jh.
Der Proportionalwinkel nach Galileo Galilei (1564 – 1642) war ein Recheninstrument, das vom 16. bis zum 19. Jh. in Verwendung war. Er besteht aus zwei flachen Schenkeln, die sich um einen festen Drehpunkt öffnen und schliessen lassen. Mehrere darauf angebrachte Skalen (Verhältnisprobleme, Multiplikation, Division, Geometrie, Trigonometrie, Quadratwurzel oder Kubikwurzel) erlauben bestimmte mathematische Berechnungen durchzuführen. Die unterschiedlichen Skalen ermöglichen eine einfache und direkte Lösung von Fragestellungen des Schiesswesens, der Vermessung und der Navigation.
Die manchmal verwendete Bezeichnung Proportionalzirkel führt zur Verwechslung mit dem Reduktionszirkel.
Jost Bürgi als Erfinder des Reduktionszirkels, um 1600
Als Instrumentenbauer entwickelte Jost Bürgi (1552 - 1632) einen universellen Proportional-Reduktionszirkel zur Teilung des Kreisumfangs, zur Streckenteilung nach dem Goldenen Schnitt oder der Quadratur des Kreises.
Der Reduktionszirkel besteht aus zwei Schenkeln, verbunden durch eine bewegliche Einstellschraube (meistens mit einem Nonius) und mit zwei Spitzen an jedem Ende. Das eine Spitzenpaar dient zum Abgreifen des Ausgangsmasses, das zweite zum Abschlagen der zu konstruierenden Grösse. Mit präzis gefertigten Geräten kann eine Genauigkeit von ±0.1 mm erreicht werden.
Der Reduktionszirkel wird heute noch von Steinbildhauern benutzt, die ihn auch Reduktionszange nennen, wenn sie Modelle vergrössert oder verkleinert in Naturstein übertragen und ausarbeiten.
Der Bézique Marker als betrugssicherer Zähler, 19. Jh.
Der Bézique Marker, gefertigt aus unterschiedlichen Materialien (Eibenholz, Elfenbein, Messing usw.), stand als Zählhilfsmittel vor allem beim Kartenspiel Bézique, ein beliebtes Spiel im 19. Jh. in Frankreich und England, im Einsatz.
Der Bézique Marker wird verwendet, um den aktuellen Stand der Punkte während des Spiels zu verfolgen.
Der römische Handabakus, ein portabler Rechner
Der römische Handabakus besteht aus sieben Schlitzen (Zehnerpotenzen) à je fünf Perlen. Die vier Perlen unten stehen für die Zahlen 0 bis 4 und eine Perle oben für die Zahl 0 oder 5. Dazwischen steht ein römisches Zahlzeichen (I, X, C usw.) bis 1'000'000. Diese Darstellung ähnelt dem japanischen Soroban.
Die zwei Reihen rechts (einmal 6 Perlen, einmal 4 Perlen) wurden fürs Bruchrechnen (1/3, 1/2 oder 1/4 Unze) mit der Währungseinheit As (1 Unze = 1/12 As) eingesetzt.
Rechenzylinder Otis King Modell K, ab 1922
Der Rechenzylinder von Otis King (Hersteller: Carbic London, UK) wird als „Pocket Calculator“ angepriesen. Dieses Modell K verfügt über zwei logarithmische spiralenförmige Skalen mit einer Länge von 1.67 Metern. Die Skalen 414 und 423 dienen zur Multiplikation und Division. Das Modell K wurde zwischen 1922 und 1972 produziert.
Blechrechner im Taschenformat
Die Zahlenschieber (Blechrechner) wurden in unterschiedlichsten Bauformen ab dem 17. Jh. zur einfachen Addition und Subtraktion als „Taschenrechner“ gebaut. Das Prinzip ist eine Zahleneingabe mit einem Stift und einer halbautomatischen Haken-Zehnerübertragung. Blechrechner waren sehr lange beliebt und wurden erst mit der Einführung elektronischer Taschenrechner ab den 1960er-Jahren ersetzt.